Opt-out und Vertriebseinstellung nach der Nutzenbewertung nach dem AMNOG

Veröffentlicht am: 01.11.22

Eine der unmittelbaren Auswirkungen der Zusatznutzenbewertung auf die Versorgung kann die Entscheidung für ein Opt-out bzw. die Einstellung des Vertriebs sein. Als „echtes“ Opt-out wird dabei definiert, dass der pharmazeutische Unternehmer den Vertrieb für sein Produkt innerhalb von 4 Wochen nach dem G-BA-Beschluss einstellt (§ 4 Abs. 7 Rahmenvereinbarung nach § 130b Abs. 9 SGB V). Wenn für ein Arzneimittel in der Nutzenbewertung kein Zusatznutzen im Vergleich zur zweckmäßigen Vergleichstherapie belegt werden kann, dürfen – gemäß den gesetzlichen Vorgaben – die von der GKV erstatteten Kosten in der Regel nicht höher als die Jahrestherapiekosten der zweckmäßigen Vergleichstherapie sein. Das kann theoretisch bedeuten, dass die erstatteten Kosten nicht höher sein dürfen als für eine generische Vergleichstherapie. Für ein pharmazeutisches Unternehmen ist es dann evtl. aus wirtschaftlichen Gründen sinnvoller, auf den Vertrieb des Arzneimittels in Deutschland zu verzichten. Seit Inkrafttreten des AMVSG (Gesetz zur Stärkung der Arzneimittelversorgung in der GKV) am 13. Mai 2017 gilt jedoch, dass in begründeten Einzelfällen anders entschieden werden kann, wenn es sich z. B. bei dem bewerteten Arzneimittel um eine wichtige Therapieoption handelt (Bundesministerium für Gesundheit 2017).

Bis zum Stichtag am 30. November 2022 wurde für 49 Wirkstoffe bzw. Wirkstoffkombinationen der Vertrieb, wenn auch teilweise nur vorübergehend, in Deutschland eingestellt. Nicht in jedem Fall war das durch das Ergebnis der frühen Nutzenbewertung begründet. Eine andere Ursache (z. B. wirtschaftliche Gründe) ist immer dann anzunehmen, wenn die Marktrücknahme europaweit erfolgte. Eine Übersicht zu den betroffenen Wirkstoffen gibt die folgende Tabelle.

Übersicht zu den Wirkstoffen, für die bis zum Stichtag 31. Dezember 2021 ein Opt-out in Anspruch genommen oder der Vertrieb in Deutschland – ggf. auch vorübergehend – eingestellt wurde.
Verfügbarkeit (Stand November 2022)WirkstoffTherapeutischesGebietZweckmäßige VergleichstherapieAnzahl VerfahrenZugelassen (Stand November 2022)
Opt-outAliskiren/ AmlodipinEssenzielle HypertonieACE-Hemmer, Calciumkanal-Antagonisten (Dihydropyridin-Typ)1nein
 Baloxavir marboxilInfluenzaOseltamivir oder Zanamivir)2nein
 CanagliflozinDiabetes mellitus Typ 2Sulfonylharnstoffe, Metformin, Humaninsulin 1zentral
 Canagliflozin/ MetforminDiabetes mellitus Typ 2Sulfonylharnstoffe, Metformin, Humaninsulin 1zentral
 Collagenase clostridium histolyticumDupuytren’sche KontrakturKeine Therapie, partielle Fasziektomie, perkutane Nadelfasziotomie1nein
 Empagliflozin/ MetforminDiabetes mellitus Typ 2Sulfonylharnstoffe, Metformin, Humaninsulin1zentral
 GaxiloseZur Diagnose der Hypolactasie H2-Atemtest1nein
 LinagliptinDiabetes mellitus Typ 2Sulfonylharnstoffe, Metformin, Humaninsulin1zentral
 LomitapidHypercholesterinämie LDL-Apherese, medikamentöser lipidsenkende Therapie, diätische Therapie zur Lipidsenkung1zentral
 LurasidonSchizophrenieAmisulprid, Aripiprazol, Olanzapin, Paliperidon, Quetiapin, Risperidon, Ziprasidon1zentral
 OspemifenPostmenopauseBest Supportive Care, systemische Hormontherapie (HT)1zentral
 RegorafenibGastrointestinaler Stromatumor, kolorektales Karzinom Best Supportive Care3zentral
 RetigabinEpilepsieLamotrigin, Topiramat, individuelle Zusatztherapie3nein
MarktrücknahmeAlbiglutidDiabetes mellitus Typ 2Sulfonylharnstoffe, Metformin, Humaninsulin 1nein
 Alipogen tiparvovecHyperlipoproteinämie Typ IStatine, Fibrate, Anionenaustauscher, Cholesterinresorptionshemmer, LDL-Apherese1nein
 Allogene, genetisch modifizierte T-ZellenHämatopoetische Stammzelltransplantation Graft-versus-Host Disease (GvHD)Keine Vergleichstherapie (Orphan Drug)1zentral
 AtalurenDuchenne-Muskeldystrophie Keine Vergleichstherapie (Orphan Drug)2zentral
 Betibeglogene Autotemcelβ-ThalassämieKeine Vergleichstherapie (Orphan Drug)1zentral
 BoceprevirChronische Hepatitis CPeginterferon, Ribavirin1nein
 BromfenacBei postoperativer Entzündung am Auge nach KataraktoperationenDexamethason lokal1zentral
 CenegerminKeratitisKeine Vergleichstherapie (Orphan Drug)1zentral
 ColestilanHyperphosphatämieCalciumhaltige Phosphatbinder, Sevelamer, Lanthancarbonat1nein
 DaclatasvirChronische Hepatitis CPeginterferon alfa, Ribavirin, Proteasehemmer (Boceprevir, Telaprevir)1nein
 DasabuvirChronische Hepatitis CPeginterferon alfa, Ribavirin, Proteasehemmer (Boceprevir, Telaprevir)1zentral
 IbalizumabHIV-​Infektionpatientenindividuelle antiretrovirale Therapie1zentral
 Ingenolmebutataktinische KeratoseDiclofenac-Hyaluronsäure-Gel, 5-Fluorouracil topisch, (chirurgische) Kryotherapie 2nein
 Insulin degludec/ LiraglutidDiabetes mellitus Typ 2Humaninsulin, Insulinanaloga, Metformin2zentral
 LixisenatidDiabetes mellitus Typ 2Sulfonylharnstoffe, Metformin, Humaninsulin1zentral
 OlaratumabSarkom Keine Vergleichstherapie (Orphan Drug)1nein
 Ombitasvir/ Paritaprevir/ RitonavirChronische Hepatitis CPeginterferon alfa, Ribavirin, Proteasehemmer (Boceprevir, Telaprevir)1zentral
 ParathyroidhormonOsteoporose (postmenopausal)Keine zVT (Verfahren eingestellt wegen Marktrücknahme)1nein
 RolapitantÜbelkeit und Erbrechen bei ChemotherapieSerotonin-Antagonisten, Neurokinin-1-Rezeptor-Antagonisten, Dexamethason1nein
 SimeprevirChronische Hepatitis CPeginterferon alfa, Ribavirin, Proteasehemmer (Boceprevir, Telaprevir)1nein
 Sipuleucel-TProstatakarzinomAbwartendes Vorgehen, konventionelle Androgendeprivationstherapie (ADT), nichtsteroidale Antiandrogene (Flutamid, Bicalutamid), Abirateron1nein
 TelaprevirHepatitis CPeginterferon, Ribavirin1nein
 VigabatrinEpilepsie, West-SyndromPatientenindividuelle Optimierung der antiepileptischen Therapie1zentral
 VortioxetinMajor DepressionSSRI, beobachtendes Abwarten, Psychotherapie1zentral
Wieder im Handel nach MarktrücknahmeAlirocumabHypercholesterinämie oder gemischte DyslipidämieStatine, Fibrate, Anionenaustauscher, Cholesterinresorptionshemmer, LDL-Apherese2zentral
Insulin degludecDiabetes mellitus Typ 2Humaninsulin, Metformin6zentral
 lebende Larven von Lucilia sericataWundheilung/DebrimentPatientenindividuelle Débridement-Technik1dezentral
 LinaclotidReizdarmsyndrom mit ObstipationErnährungsumstellung, symptomatische Therapie1zentral
 MirabegronÜberaktive BlaseDarifenacin, Fesoterodin, Propiverin, Solifenacin, Tolterodin, Trospiumchlorid1zentral
 OlodaterolCOPDFestbetragsgruppe Beta 2-Sympathomimetika, inhalativ oral, Gruppe 11dezentral
 OsimertinibLungenkarzinomErlotinib, Gefitinib, Afatinib, Chemotherapie, Best Supportive Care4zentral
 PerampanelEpilepsieLamotrigin, Topiramat5zentral
 PitavastatinPrimäre Hypercholesterinämie und gemischte DyslipidämieStatine1dezentral
 Tafluprost/ TimololOffenwinkelglaukom, okuläre HypertensionBetablocker, Prostaglandin-Analoga, Prostamid1dezentral
 VildagliptinDiabetes mellitus Typ 2Sulfonylharnstoffe, Metformin2zentral
 Vildagliptin/ MetforminDiabetes mellitus Typ 2Sulfonylharnstoffe, Metformin1zentral
* zentral = Zulassung durch EMA; dezentral = nationale oder dezentrale Zulassung

icon download

Die Konsequenzen für die Versorgung in Deutschland sind sehr unterschiedlich. Von den insgesamt 49 Wirkstoffen und Wirkstoffkombinationen, für die seit 2011 ein Opt-out in Anspruch genommen oder der Vertrieb eingestellt wurde, waren 12 im Jahr 2022 prinzipiell verfügbar und wurden teilweise auch in relevantem Ausmaß ambulant verordnet. Damit sind 37 Wirkstoffe in Deutschland dauerhaft nicht mehr verfügbar. Von diesen 37 Wirkstoffen sind 18 weiterhin zentral durch die EMA zugelassen. Für die übrigen 19 Arzneimittel gibt es aktuell keine Zulassung. Bei den meisten der nicht mehr zugelassenen Arzneimittel (z. B. Alipogen-Tiparvovec, Boceprevir, Ingenolmebutat, Sipuleucel-T, Telaprevir) steht die Rücknahme der Zulassung in keinem Zusammenhang mit der Nutzenbewertung, sondern war wirtschaftlich bedingt oder durch Sicherheitsbedenken begründet. In anderen Fällen (z. B. Collagenase von Clostridium histolyticum, Retigabin) wurde zunächst der Wirkstoff aufgrund der Nutzenbewertung nur aus dem deutschen Markt genommen und die europäische Zulassung erst später (ggf. Jahre später) zurückgenommen.

Sofern die betroffenen Arzneimittel in anderen Ländern weiterhin zugelassen und verfügbar sind, können sie prinzipiell als Einzelimporte verordnet werden. So wurden z. B. die Kosten von den Kassen für den Wirkstoff Retigabin übernommen (Apotheke adhoc 2012). Inzwischen wurde jedoch für Retigabin wegen Langzeitnebenwirkungen der Vertrieb weltweit eingestellt (AkdÄ 2017). Für den Wirkstoff Perampanel hatte der Hersteller ein kostenfreies Import-Programm aufgelegt, sodass alle Patienten, bei denen eine Therapie mit dem Wirkstoff begonnen wurde, weiterhin mit Importen aus der Schweiz versorgt werden konnten (Eisai 2013). Dieses wurde jedoch zum April 2016 vom Hersteller eingestellt (Eisai 2015). Inzwischen haben sich der Hersteller und der GKV-Spitzenverband auf einen Erstattungsbetrag geeinigt und Perampanel ist seit Dezember 2017 wieder in Deutschland verfügbar.

Wenn es keine Zusagen der Kassen zur Kostenübernahme bzw. keine Versorgungsprogramme der Hersteller gibt, gilt, dass die Arzneimittel im Fall eines Imports von den Patienten selbst bezahlt werden müssen. Man kann argumentieren, dass daraus in den meisten Fällen keine schlechtere Versorgung resultieren dürfte. Von den Wirkstoffen, deren Vertrieb eingestellt wurde, gehören zehn zu den Antidiabetika. Von diesen neun Wirkstoffen bzw. Wirkstoffkombinationen sind aktuell drei wieder verfügbar. Pitavastatin wurde ohne Zusatznutzenbewertung direkt in das Festbetragssystem eingegliedert, sodass hier davon auszugehen ist, dass genügend Alternativen in Form anderer Statine zur Verfügung ständen, selbst wenn – wie geschehen – der Vertrieb von Pitavastatin nicht wieder aufgenommen worden wäre. Tatsächlich lag 2021 der Anteil von Pitavastatin amVerbrauch aller Statine bei deutlich unter ein Promille. Für die Patienten, die ein Antidiabetikum, Lipidsenker oder anderes Medikament erhalten, das dauerhaft angewendet werden muss, bedeutet jedoch die Vertriebseinstellung, dass ihre Therapie umgestellt werden muss, was mit Zusatzaufwand und ggf. Belastungen für die Patienten verbunden ist.

Mit Osimertinib wurde im November 2016 erstmals ein Onkologikum mit bedingter Zulassung (Conditional Marketing Authorization) infolge der Nutzenbewertung vom deutschen Markt genommen. Der Wirkstoff ist zugelassen zur Behandlung des metastasierten nichtkleinzelligen Lungenkarzinoms mit EGRF-T790M-Mutation, welche zu einer Resistenz gegenüber anderen Tyrosinkinase-Inhibitoren führt. Der G-BA gibt die Gesamtpopulation in der deutschen GKV mit ca. 1700 Patienten an, ein Zusatznutzen wurde für keine Patientenpopulation belegt (G-BA 2016). Aufgrund der bedingten Zulassung lagen zum Zeitpunkt der Nutzenbewertung keine ausreichenden Studienergebnisse aus kontrollierten klinischen Studien (RCTs) vor, welche im Allgemeinen die Grundlage der Nutzenbewertung bilden. Diese Inkongruenz der Evidenzkriterien zwischen Zulassung und Nutzenbewertung kann bei Wirkstoffen mit bedingter Zulassung dazu führen, dass kein Zusatznutzen zuerkannt wird und in Abhängigkeit von den Kosten der zVT keine sinnvolle Preisbildung möglich ist. Im Fall von Osimertinib erfolgte eine Vertriebseinstellung durch den Hersteller nach der ersten Runde der Preisverhandlungen (Ärztezeitung 2016). Am 1. Mai 2017 wurde nach Verkürzung der Befristung ein Neubewertungsverfahren eingeleitet, da inzwischen Ergebnisse einer klinischen randomisierten Phase-III-Studie verfügbar waren. In dem Beschluss vom Oktober 2017 wurde Osimertinib vom G-BA in der größten Teilpopulation ein Anhaltspunkt für einen beträchtlichen Zusatznutzen zugesprochen. Seit dem 1. November 2017 ist der Wirkstoff nun wieder in Deutschland verfügbar.

Als weiteres Beispiel soll hier dargestellt werden, warum Betibeglogene Autotemcel in Deutschland nicht mehr vertrieben wird. Es wurde als erste Gentherapie zur Behandlung der β-Thalassämie zugelassen. Durch diese Therapie kann bei einem großen Teil der Patienten erreicht werden, dass über Jahre hinweg keine Bluttransfusionen durchgeführt werden müssen. Dem Orphan Drug wurde vom G-BA ein nicht quantifizierbarer Zusatznutzen bescheinigt. Die Preisverhandlung mündete in ein Schiedsverfahren, das sich erstmals mit der Preisfestsetzung für eine Einmaltherapie befassen musste. Im besten Falle würde die einmalige Therapie mit dem Wirkstoff bei den Patienten lebenslang dafür sorgen, dass keine Transfusionen mehr durchgeführt werden müssen. Es sollte ein „ergebnisorientiert angepasster Erstattungspreis“ verhandelt werden. Der Schiedsspruch beruht auf der Annahme, dass für die Preisfestsetzung ein 15-jähriger Zeitraum zu betrachten sei. Es wurde ein Erfolgspreis festgesetzt, der 50 % des europäischen Vergleichspreises betragen hätte (Gemeinsame Schiedsstelle 2021). Daraufhin nahm der Hersteller das Produkt vom deutschen Markt. Im März 2022 entschied sich der Hersteller zudem, das Produkt aus wirtschaftlichen Gründen europaweit vom Markt zu nehmen.

Bei einer Reihe weiterer Wirkstoffe ist kaum zu beurteilen, wie die eingeschränkte Verfügbarkeit infolge der Vertriebseinstellungen wirkt. Auf Seiten der GKV wird argumentiert, dass ein Zusatznutzen gegenüber der Vergleichstherapie nicht belegt sei und somit mindestens genauso wirksame Alternativen zur Verfügung stünden. Tatsächlich verhält es sich aber oft so, dass direkt vergleichende Studien zu der vom G-BA festgelegten Vergleichstherapie nicht durchgeführt wurden, also das zu bewertende Arzneimittel im Vergleich zu einem anderen Komparator geprüft wurde. Die Formulierung, dass ein Zusatznutzen gegenüber der Vergleichstherapie nicht belegt ist, heißt nicht selten, dass man schlicht nicht weiß, ob es einen Zusatznutzen gibt oder nicht. Häufig ist dies der Fall, weil entsprechende direkte Vergleiche nicht durchgeführt wurden, indirekte Vergleiche nicht möglich sind oder die Evidenzsituation zum Zeitpunkt der Zulassung nicht den Anforderungen der Nutzenbewertung in Deutschland genügt. Hinzu kommt, dass indirekte Vergleiche bei der Nutzenbewertung nur in Ausnahmefällen anerkannt werden, da die Anforderungen sowohl an die Methodik als auch die Ergebnisinterpretation sehr hoch sind. Es ist also nicht auszuschließen, dass durch Vertriebseinstellungen, die infolge der Nutzenbewertung durchgeführt werden, sich die Versorgung der Patienten verschlechtern kann. Bei den bisher beobachteten Fällen erscheint dies zwar überwiegend nur dann wahrscheinlich, wenn im Einzelfall der Aufwand gescheut wird, die Kostenübernahme für Einzelimporte bei der GKV zu beantragen. Bei sehr hochpreisigen Arzneimitteln besteht aber durchaus die Unsicherheit, dass der Kostenübernahme zugestimmt wird, und insofern sind Versorgungseinschränkungen tatsächlich nicht auszuschließen.