Innovationszyklen in allen Indikationsgruppen des Arzneimittel-Atlas 2018

Veröffentlicht am: 15.04.19

Die für die Mittel bei Hypertonie beschriebenen Lebens- bzw. Innovationszyklen treten auch bei anderen Indikationsgruppen auf.

In diesem Abschnitt sollen daher die Ergebnisse für die systematische Untersuchung aller Indikationsgruppen des Arzneimittel-Atlas hinsichtlich ihrer Innovationszyklen dargestellt werden. Um die Konsistenz zu den bisherigen Ausgaben des Arzneimittel-Atlas zu gewährleisten, wird nur auf die NVI-Daten (INSIGHT Health) zurückgegriffen, was einen Beobachtungszeitraum von 2004 bis 2017 ermöglicht. Dieser Zeitabschnitt liefert lediglich einen Teilausschnitt der Lebenszyklen der untersuchten Indikationsgruppen. Es ist dennoch möglich, die Indikationsgruppen entsprechend der in diesem Zeitabschnitt erkennbaren Phasen zu kategorisieren.

Anlehnend an die Kategorisierung der Lebenszyklusphasen (siehe Hintergrund) wurde systematisch untersucht, an welcher Stelle des Innovationszyklus sich die 94 im Arzneimittel-Atlas betrachteten Indikationsgruppen jeweils befinden (Stand 31.12.2017). Berücksichtigt wurden alle Indikationsgruppen, für die im Berichtsjahr 2004 Werte für Verbrauch und Umsatz vorlagen. Für die Indikationsgruppen V09 (Radiodiagnostika), V10 (Radiotherapeutika) und V90 (Sondergruppen) war dies nicht der Fall. Somit verringerte sich die Grundgesamtheit von 97 auf 94 Indikationsgruppen.

Die Kategorie „Einführungsphase“ wurde ersetzt durch die Phase „Neuer Innovationszyklus“, da im betrachteten Zeitfenster keine neuen Indikationsgruppen gegründet wurden und daher lediglich beginnende Innovationszyklen durch einzelne Wirkstoffe, Therapieansätze oder Teil-Indikationsgruppen als Überlagerung erkennbar wären.

Es wurde die indexierte Umsatzentwicklung jeder Indikationsgruppe betrachtet. Zur Einordnung der Indikationsgruppen wurden u. a. statistische Kennziffern wie die Varianz oder die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate verwendet.

Die Indikationsgruppen wurden in vier Kategorien eingeordnet (siehe folgende Tabelle). Dargestellt ist der Anteil der Indikationsgruppen, der sich in der entsprechenden Zyklusphase befindet. Im Detail sind Anzahl und Anteile der Indikationsgruppen gezeigt, die sich in einer Phase mit Bezug zu aktueller oder kürzlich abgeschlossener Innovationstätigkeit befinden (Auswertungsstand 31.12.2017). Die Angaben für Indikationsgruppen, die einer Phase nach der Reifephase zuzuordnen sind oder deren Phase im Zyklus nicht eindeutig zu bestimmen ist, wurden zusammengefasst. Da sich einzelne Indikationsgruppen im Beobachtungszeitraum in unterschiedlichen Phasen befinden können, erfolgte die Einordnung anhand der jüngsten Entwicklungen und bildet somit den aktuellen Stand im Innovationszyklus wieder. Alle Werte der Darstellung sind auf das Jahr 2004 (= 1) indexiert.

Kategorisierung der 94 Indikationsgruppen nach deren Umsatzentwicklung im Zeitraum 2004–2017 (Umsatz in Apothekenverkaufspreisen und inflationsbereinigt bezogen auf das Jahr 2017).
Phase im InnovationszyklusAnzahl der IndikationsgruppenAnteil an Grundgesamtheit (%)
1. Neuer Innovationszyklus (Beginn eines weiteren Innovationszyklus innerhalb der Indikationsgruppe)33,2 %
2. Wachstumsphase2122,3 %
3a. Reifephase – Peak (weiterhin Wachstum, aber verlangsamt)1313,8 %
3b. Reifephase – Sättigung (Umsatzrückgang durch zunehmende Konkurrenz)1414,9 %
Andere Phasen4345,7 %
Quelle: IGES-Berechnungen nach NVI-Daten (INSIGHT Health)

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Wie die obere Tabelle zeigt, befinden sich 22,3 % der Indikationsgruppen in einer Wachstumsphase im Sinne eines Innovationszyklus (Stand 31.12.2017). Insgesamt rund 29 % der Indikationsgruppen wurden einer Reifephase zugeordnet. Fast 46 % der Indikationsgruppen, die jedoch nur einen Anteil von 16 % am Umsatz haben, wurden anderen Phasen zugeordnet. Sie befinden sich z. B. in der Niedergangs Phase oder es wurde erkennbar ein Innovationszyklus durchlaufen, doch ist kein Niedergang der Gruppe zu erkennen, weil weiterhin ein stabiler oder sogar wachsender Bedarf für die Wirkstoffe besteht.

Anhand von ausgewählten Beispielen wird im folgenden Abschnitt auf die einzelnen Phasen genauer eingegangen.

Arzneimittelgruppen mit neuem Innovationszyklus

Da sich alle betrachteten Indikationsgruppen schon seit längerer Zeit auf dem Markt befinden, kann es mit Stand 2017 keine Einführungsphasen geben. Allerdings können innerhalb der Indikationsgruppe auf untergeordneter Ebene erneut Innovationszyklen auftreten, die sich im Umsatz der gesamten Gruppe bemerkbar machen. Es handelt sich um Indikationsgruppen, die sich in Bezug auf Innovation erholt haben und am Anfang eines erneuten Zyklus stehen.

In der folgenden Abbildung ist die Umsatzentwicklung für lipidsenkende Mittel (C10) dargestellt. Diese führen zu einer Senkung der Blutfettwerte und können somit das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen vermindern. Nachdem im Jahr 2014, nach anhaltendem Umsatzrückgang, das Minimum im Beobachtungszeitraum erreicht wurde (Rückgang auf 73 % des Umsatzes im Vergleich zu 2004), fand anschließend wieder ein spürbares Wachstum statt. Der Umsatz erreichte im Jahr 2017 wieder 93 % des Ausgangsniveaus im Jahr 2004. Der Umsatzrückgang ging einher mit weiterhin steigendem Verbrauch und erklärt sich durch den Preiswettbewerb in einem weitgehend generischen Markt. Der Umsatzanstieg ist hauptsächlich durch die Einführung eines neuen Therapieansatzes, der PCSK9-Hemmer, bedingt, mit denen ein neuer Zyklus innerhalb der Indikationsgruppe beginnt.

IGES-Berechnungen nach NVI (Insight Health)

Arzneimittelgruppen in der Wachstumsphase des Innovationszyklus

Der Wachstumsphase konnten 21 % bzw. 22,3 % der Zyklusphasen zugeordnet werden. Ihr Anteil am Umsatz entspricht 50,4 %; es liegt also ein enormer Schwerpunkt auf diesem Bereich. Mit Ausnahme der Impfstoffe (J07) haben alle in der Wachstumsphase befindlichen Indikationsgruppen ihren Umsatzhöhepunkt im Jahr 2017. Ein weiteres markantes Merkmal ist die in der Regel hohe jährliche Wachstumsrate, die bei 9 der 21 Gruppen bei über 10 % liegt.

Beispielhaft sollen hier vier Indikationsgruppen vorgestellt werden, die wegen ihrer Bedeutung für die Versorgung aber nicht zuletzt auch aufgrund ihrer Ausgabenwirkung auf hohes Interesse stoßen: Antidiabetika (A10), antithrombotische Mittel (B01), antineoplastische Mittel (L01) sowie Immunsuppressiva (L04). Die indexierten Umsatzverläufe sind in den folgenden Abbildungen dargestellt.

Für die antidiabetischen Mittel zeigt sich im gesamten Betrachtungszeitraum ein zwar nicht sehr ausgeprägtes, aber stetiges Wachstum, das auch auf Innovationen zurückzuführen ist. Hervorzuheben ist die Einführung von drei neuen Therapieansätzen für die Behandlung des Typ-2-Diabetes. Die jährliche Wachstumsrate war mit 6,5 % zwischen 2004 und 2017 vergleichsweise moderat, und der Umsatz erreichte 2017 ein Volumen von 2.507 Mio. Euro.

Der Umsatz für die antithrombotischen Mittel betrug 2017 2.198 Mio. Euro und lag damit unter dem der Antidiabetika. Das Wachstum war bis 2011 gering ausgeprägt, beschleunigte sich danach jedoch erheblich, sodass sich für den Betrachtungszeitraum die jährliche Wachstumsrate mit 10,6 % berechnet. Anstoß zu dem steilen Wachstum seit 2012 gaben die DOAKs (direkte orale Antikoagulanzien). Wirkstoffe, die zu diesem neuen Therapieansatz gehören, sind bereits seit 2008 verfügbar. Die Zulassung für die Anwendung zur Schlaganfallprophylaxe bei Vorhofflimmern löste das zu beobachtende Wachstum aus, da durch die Wirkstoffe auch ein bisher offener medizinischer Bedarf gedeckt werden konnte.

Unbestritten befindet sich die Indikationsgruppe der antineoplastischen Mittel mitten in einem Innovationszyklus, was sich in zahlreichen Neueinführungen in den letzten Jahren ausdrückt. So wurden allein im Zeitraum zwischen 2011 und 2017 insgesamt 55 neue Wirkstoffe eingeführt. Die jährliche Wachstumsrate wurde mit 9,8 % bestimmt. Das Umsatzvolumen lag 2017 bei 4.865 Mio. Euro.

Eine noch viel höhere jährliche Wachstumsrate zeigt sich bei den Immunsuppressiva mit 21,1 % zwischen 2004 und 2017. Mit einem Umsatzvolumen von 5.248 Mio. Euro im Jahr 2017 ist es auch die größte Indikationsgruppe. Treiber des Wachstums sind seit vielen Jahren einerseits die Immunsuppressiva bei rheumatoider Arthritis und anderen Systemkrankheiten. Hier sind zwar seit kurzem für den wichtigsten Therapieansatz, die TNF-alpha-Inhibitoren, Biosimilars verfügbar, doch steigt der Verbrauch weiterhin so stark, dass es bisher nicht zu einem Umsatzrückgang gekommen ist. Das anhaltende Verbrauchswachstum beruht darauf, dass offenbar noch sehr viele Patienten mit den genannten Erkrankungen unzureichend versorgt sind (siehe z. B. Steffen et al. 2018 siehe Literatur). Zu dem Umsatzwachstum hat in den letzten Jahren außerdem erheblich die Teil-Indikationsgruppe der Immunsuppressiva bei Psoriasis beigetragen, in der innovative Wirkstoffe eingeführt wurden. Zu nennen sind außerdem die Teil-Indikationsgruppen der Immunsuppressiva bei Multipler Sklerose sowie die bei Multiplem Myelom eingesetzten Immunsuppressiva.

Den größten relativen Anstieg zeigte die vergleichsweise kleine Indikationsgruppe der anderen Mittel für den Respirationstrakt (R07) mit einem jährlichen Wachstum von 127 % zwischen 2004 und 2017. Ursache dafür ist die Einführung der beiden Orphan Drugs Ivacaftor sowie Ivacaftor/Lumacaftor zur Behandlung bestimmter Formen der zystischen Fibrose in den Jahren 2012 bzw. 2015. Dadurch wurde der Umsatz dieser Indikationsgruppe von 0,1 Mio. Euro im Jahr 2011 in den dreistelligen Millionenbereich im Jahr 2017 katapultiert.

IGES-Berechnungen nach NVI (Insight Health)
IGES-Berechnungen nach NVI (Insight Health)
IGES-Berechnungen nach AVR (2004 bis 2011) undNVI (Insight Health)
IGES-Berechnungen nach NVI (Insight Health)

Insbesondere die in der Wachstumsphase befindlichen Indikationsgruppen sind immer wieder Gegenstand der Debatte um steigende Arzneimittelausgaben. Doch auch in diesen Indikationsgruppen wird irgendwann nach Abebben der Innovationstätigkeit ein Umsatzrückgang einsetzen. Es lässt sich für die einzelnen Gruppen allerdings nicht vorhersagen, wann die Reifephase (siehe unten) beginnen und somit der Umsatzrückgang einsetzen wird. Dass dieser Effekt für einzelne Wirkstoffe in Indikationsgruppen mit hohen Wachstumsraten bereits eingesetzt hat, wird in Abschnitt 5.4 exemplarisch gezeigt.

Arzneimittelgruppen in der Reifephase des Innovationszyklus

Die Reifephase kann in zwei Teilphasen unterteilt werden, welche den Höhepunkt der Wachstumsphase („Peak“) und den zeitlich danach einsetzenden Sättigungseffekt beschreiben. In der Summe befinden sich 27 Indikationsgruppen in der Reifephase, was sie zur größten Gruppe macht. Gemessen am Umsatz im Jahr 2017 kommen die 27 Indikationsgruppen auf einen Anteil von 31,5 % an der Grundgesamtheit der 94 Indikationsgruppen.

In der Phase des Peaks mit dem Maximum der Umsatzentwicklung befinden sich insgesamt 13 der 94 Indikationsgruppen. Der Umsatzanteil dieser Gruppen beträgt 13,8 % im Jahr 2017.

In der folgenden Abbildung ist beispielhaft der Verlauf für die Indikationsgruppen Ophthalmika (S01) dargestellt. Ophthalmika werden bei Erkrankungen am Auge oder im Auge angewendet. Bis zum Jahr 2009/2010 war der Umsatz relativ stabil. Dies änderte sich ab 2012 und war zunächst vor allem durch die Mittel bei Makuladegeneration bedingt, die ein enormes Verbrauchswachstum zeigten. Hier deutet sich allerdings inzwischen eine Stabilisierung an, sodass künftig mit geringerem Ausgabenzuwachs zu rechnen ist. Gleichzeitig sind in den letzten Jahren einige sehr innovative Arzneimittel eingeführt worden. Diese werden jedoch nur zu eher mäßigen Ausgabensteigerungen führen, da sie entweder nur stationär eingesetzt werden oder die Anzahl ambulant behandelter Patienten relativ klein ist.

IGES-Berechnungen nach NVI (Insight Health)

Nach dem Erreichen des Peaks folgt im Verlauf eines Innovationszyklus die Sättigung. In dieser Phase wurde der Scheitelpunkt soeben überschritten und es kommt zu einer Konsolidierung des Umsatzes, bedingt durch Preisverfall und/oder Verbrauchsrückgang. Diese Zyklusphase kann bei 14 Indikationsgruppen beobachtet werden, welche einen Umsatzanteil von 19,0 % im Jahr 2017 auf sich vereinten.

Als Beispiel ist in der folgenden Abbildung der Umsatzverlauf für die Antiepileptika (N03) dargestellt. Die wichtigsten Anwendungsgebiete für Antiepileptika sind die verschiedenen Formen von epileptischen Erkrankungen und neuropathische Schmerzen. Das in der Vergangenheit zu beobachtende Wachstum war vor allem durch den Wirkstoff Pregabalin bestimmt, der überwiegend bei neuropathischen Schmerzen eingesetzt wird. Pregabalin ist seit Ende 2014 generisch verfügbar. Das Verbrauchswachstum hält nach Einführung der Generika an, doch konnte das Umsatzwachstum durch die gesunkenen Preise gebremst werden.

IGES-Berechnungen nach NVI (Insight Health)

Arzneimittelgruppen in anderen Phasen des Innovationszyklus

Von den 94 Indikationsgruppen wurden 43 anderen Phasen als den oben beschriebenen zugeordnet. Diese 43 Indikationsgruppen repräsentieren nur 15,9 % des Umsatzes. Charakteristisch für sie ist, dass in ihnen aus Blick des Jahres 2017oder in der Vergangenheit keine oder nur minimale Innovationstätigkeit stattgefunden hat – d.h., dass der Innovationszyklus in diesen Indikationsgruppen durchlaufen ist und auch kein weiterer begonnen hat. Der Umsatzverlauf kann sehr unterschiedlich sein (Stand 2017):

  • Der Umsatz kann seit Jahren rückläufig sein, sodass abzusehen ist, dass für diese Indikationsgruppe in der Zukunft nur noch geringer oder auch kein Umsatz mehr zu erwarten ist. Dies trifft z. B. zu für die Indikationsgruppe der peripheren Vasodilatatoren (C04), die in der Vergangenheit z. B. bei Durchblutungsstörungen eingesetzt wurden, doch gilt das therapeutische Konzept inzwischen als überholt (siehe folgende Abbildung). Zu dieser Variante des Umsatzverlaufs zählen auch drei Gruppen, bei denen der Umsatz bereits in der Vergangenheit die Nulllinie erreicht hat (Anabolika zur systemischen Anwendung [A14], appetitstimulierende Mittel [A15], andere Herz-Kreislauf-Mittel (C06)).
  • Der Umsatz kann Jahre rückläufig gewesen sein und sich inzwischen auf einem bestimmten Niveau stabilisiert haben. Es ist für die absehbare Zukunft nicht zu erwarten, dass es zu einem weiteren erheblichen Umsatzrückgang oder gar einem Niedergang der Indikationsgruppe kommt, weil es sich um Standardtherapeutika handelt, für die absehbar weiterer Bedarf besteht. Zu dieser Gruppe zählen z. B. die Betablocker (siehe Gesamtgruppe Hypertonika).
  • Der Umsatz steigt seit Jahren an, doch ist keinerlei Innovationaktivität für die Indikationsgruppe bekannt; vielmehr handelt es sich um Gruppen, die seit langer Zeit komplett generisch sind. Hier kann es sich um eine Situation handeln, bei der sich schon vor vielen Jahren ein Boden beim Preis gebildet hat und die Preise mittlerweile wieder angestiegen sind, ggf. auch durch eine gesunkene Zahl von Anbietern. Auch kann morbiditätsbedingt der Bedarf für die Wirkstoffe der Indikationsgruppe steigen. Eine Kombination beider Szenarien ist ebenfalls möglich, wie z. B. bei den Mitteln zur Schilddrüsentherapie (H03).
IGES-Berechnungen nach NVI (Insight Health)
IGES-Berechnungen nach NVI (Insight Health)