Bedarf und Versorgung

Veröffentlicht am: 11.09.17

Die aktuelle Leitlinie zur Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose (MS) geht davon aus, dass die MS die häufigste chronisch verlaufende Erkrankung des zentralen Nervensystems ist, von der in Deutschland mehr als 120 000 Patienten betroffen sind (Deutsche Gesellschaft für Neurologie [DGN], Kompetenznetz Multiple Sklerose [KKNMS] 2014). Nach Angaben der Homepage der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) sollen in Deutschland hochgerechnet rund 130 000 Menschen an Multipler Sklerose erkrankt sein. Es findet sich dort auch der Hinweis, dass es nach neueren Analysen deutlich mehr sein könnten (DMSG 2015).

Neuere Analysen weisen tatsächlich darauf hin, dass die Zahl der Betroffenen höher liegen dürfte, als bisher angenommen. Eine Routinedatenanalyse auf Basis von Daten der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns kam zu dem Ergebnis, dass im Jahr 2009 die Zahl der Patienten mit MS in Deutschland hochgerechnet bei 143 000 lag, d.h., 175 von 100 000 Einwohnern erkrankt waren (Höer et al. 2014). Eine etwas aktuellere Analyse, die sich auf die Datengrundlage für den morbiditätsadjustierten Risikostrukturausgleich stützt, kommt zu noch deutlich höheren Zahlen: 2010 wurde bei fast 200 000 Patienten der GKV die Diagnose MS in mindestens einem Quartal dokumentiert, d.h. bei 289 von 100 000 Versicherten. Bei rund 136 000 der Patienten (68 %) fand sich die Diagnose in jedem Quartal, bei knapp 175 000 Versicherten (88 %) waren zwei Diagnosen dokumentiert (Petersen et al. 2014).

Frauen sind von MS mehr als doppelt so häufig betroffen wie Männer. So berechnet die Studie von Höer et al. (2014) für 2009 in Deutschland 40 000 betroffene Männer und rund 100 000 betroffene Frauen. Zu einem ähnlichen Verhältnis kommt die Analyse von Petersen et al. (2014) mit einer mittleren Prävalenz von 382/100 000 bei den Frauen und 167/100 000 bei den Männern.

Weltweit sollen mehr als zwei Millionen Menschen an MS erkrankt sein. Europa gilt als Hochprävalenzregion, und es wird angenommen, dass mehr als die Hälfte der weltweit von MS betroffenen Menschen in Europa ansässig ist. Die Ursachen für diese gravierenden Unterschiede in der Prävalenz werden einerseits in unterschiedlicher genetischer Prädisposition gesehen. Darüber hinaus sollen auch unterschiedliche Umweltweinflüsse von Bedeutung sein (Kingwell et al. 2013). Ein Vergleich der Prävalenz zwischen verschiedenen europäischen Ländern ist kaum möglich. Eine aktuelle systematische Untersuchung zu dem Thema (Kingwell et al. 2013) stellt fest, dass es eine Tendenz für höhere Prävalenz in den nördlichen Regionen Europas gibt, was die Rolle der geografischen Breite unterstützt – MS soll umso häufiger sein, je weiter entfernt vom Äquator eine Region ist. Die Analyse von Kingwell et al. kommt zu dem Schluss, dass die Qualität der durchgeführten Studien abhängig von der Region und dem Zeitraum sehr variabel und damit die Vergleichbarkeit eingeschränkt ist.

Für Deutschland konnte in den letzten Jahren ein Anstieg der dokumentierten MS-Diagnosen gezeigt werden (Höer et al. 2014). Über einen Anstieg der MS-Prävalenz wie auch der Inzidenz, auch über einen sehr viel längeren Zeitraum, wird in vielen Publikationen berichtet (z. B. Bentzen et al. 2010, Koutsouraki 2010, Midgard 2012, Alcalde-Cabero et al. 2013, Kingwell et al. 2013). Die Ursachen für den Anstieg sind nicht sicher geklärt. Vermutet werden bspw. geänderte Umweltfaktoren. Eine Rolle spielt vermutlich auch, dass die Diagnose inzwischen wegen vereinfachter Diagnosekriterien bereits früher im Krankheitsverlauf gestellt werden kann (Petersen et al. 2014). Einen Trend zu früherer Diagnosestellung lassen auch die Daten des deutschen MS-Registers erkennen (MS Forschungs- und Projektentwicklungs-Gmbh 2014). Da inzwischen eine möglichst früh beginnende immunmodulatorische Therapie der MS empfohlen wird (DGN/KKNMS 2014), ist die frühere Diagnosestellung für die Patienten sehr relevant.

Für die Abschätzung des Behandlungsbedarfs ist es wichtig, den Anteil der verschiedenen Verlaufsformen der MS zu kennen. Die Ergebnisse des deutschen MS-Registers aus dem Jahr 2014 liefern dazu folgende Angaben, die sich auf die über 42 000 in dem Register erfassten Patienten beziehen: Mit 59 % war der Anteil von Patienten mit schubförmigen Verlauf (RRMS) am höchsten, gefolgt von 26 % mit einem sekundär progredienten Verlauf (SPMS) und 8 % der Patienten mit einem primär progredienten Verlauf (PPMS). Bei 3,6 % der Patienten lag ein klinisch isoliertes Syndrom vor, und bei 4 % der registrierten Patienten war die MS nicht eindeutig klassifiziert (MS Forschungs- und Projektentwicklungs-gGmbH 2014).

Eine immunmodulierende Therapie wird auf jeden Fall für die Behandlung von Patienten mit schubförmiger MS empfohlen. Auch beim klinisch isolierten Syndrom (KIS) kann unter bestimmten Voraussetzungen eine immunmodulatorische Therapie begonnen werden. Bei sekundär progredienter MS kann mit Beta-Interferonen behandelt werden, wenn bei den Patienten weiterhin klinische Schübe auftreten. Für die immunmodulatorische Behandlung der primär progredienten MS ist derzeit weder eine Therapie zugelassen, noch gibt es Hinweise aus klinischen Studien, dass ein bekanntes Arzneimittel bei dieser Verlaufsform von Nutzen wäre (DGN/KKNMS 2014).

In der Analyse der Verordnungsdatenanalyse der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern lag der Anteil von Versicherten mit Verordnungen für eine immunmodulatorische Therapie im Jahr 2009 bei 50,5 % (einschließlich Mitoxantron und Natalizumab). Petersen et al. (2014) fanden für 2010, dass rund 49 % der Patienten eine MS-spezifische Therapie (einschließlich Schubtherapie mit Kortikosteroiden) erhalten hatten. Eine ältere Analyse aus dem deutschen MS-Register fand 37,6 % der Patienten, die im Jahr 2005/2006 mit Interferon beta, und 8,9 % der Patienten, die mit Glatirameracetat behandelt wurden, also insgesamt knapp 47 % der Patienten mit immunmodulatorischer Therapie (Flachenecker et al. 2008). Aus den aktuell publizierten Zahlen ergeben sich rund 124 000–200 000 Patienten mit MS in der GKV (Höer et al. 2014, Petersen et al. 2014). Der Anteil von Patienten mit immunmodulatorischer Therapie kann nach den publizierten Daten mit 50 % angenommen werden. Bei einer geschätzten Prävalenz von ca. 124 000–200 000 Patienten mit MS in der GKV (Höer et al. 2014, Petersen et al. 2014) kann die die Anzahl der MS-Patienten mit einer immunmodulierenden Therapie in der GKV-Population auf 62 000–100 000 Patienten geschätzt werden.

Anhand des Verbrauchs von spezifischen, krankheitsmodifizierenden MS-Medikamenten kann geschätzt werden, wie viele Patienten in der Vergangenheit hätten behandelt werden können (Abb. 2). Bei Annahme eines Bedarfs von einer DDD täglich lag im Jahr 2005 die Zahl der behandelbaren Patienten bei knapp 34 000 und hat sich 2014 mit knapp 78 000 mehr als verdoppelt. Da unter Umständen der Bedarf für die Erhaltungstherapie geringer als eine DDD sein kann, sind die Zahlen als Mindestwerte zu verstehen. Der aktuelle Wert korrespondiert sehr gut mit der Schätzung (siehe oben) zur Anzahl behandelter Patienten in der GKV.

Eine valide Modellierung des Behandlungsbedarfs mit immunmodulatorischen Arzneimitteln bei Patienten der GKV kann auf Grundlage der verfügbaren Daten nur für Patienten mit RRMS erfolgen. Mangels entsprechender aktueller Daten kann für Patienten mit SPMS und aufgesetzten Schüben der Bedarf nicht geschätzt werden. Geht man von 124 000–200 000 MS-Patienten in der GKV aus und nimmt an, dass – entsprechend den Auswertungen des deutschen MS-Registers – 59 % eine RRMS haben, dann läge der Behandlungsbedarf mindestens bei 73 000–118 000 Patienten, zuzüglich der Patienten, bei denen die MS sekundär progredient mit aufgesetzten Schüben verläuft. In aktuellen Beschlüssen des G-BA zu Arzneimitteln, die zur Anwendung bei Patienten mit RRMS zugelassen sind, wird für die GKV die Zahl von ca. 85 000–105 000 Patienten genannt, die für eine Behandlung in Frage kommen (G-BA 2014a, 2014b). Unter diesen Annahmen kommt die Zahl der behandelbaren Patienten dem Mindestbedarf inzwischen recht nahe. Bei der Schätzung der Zahl der behandelbaren Patienten kann der Verbrauch an nicht spezifischen Arzneimitteln (wie bspw. Mitoxantron) nicht berücksichtigt werden. In Ermangelung spezifischer Alternativen könnte der Anteil so behandelter Patienten in der Vergangenheit einen relevanten Anteil erreicht haben.

Die verfügbaren Informationen deuten darauf hin, dass inzwischen in der GKV bei Patienten mit MS der Behandlungsbedarf in hohem Maße gedeckt sein könnte.

Quelle: IGES-Berechnungen nach NVI (Insight Health)

Die verfügbaren Informationen deuten darauf hin, dass inzwischen in der GKV bei Patienten mit MS der Behandlungsbedarf in hohem Maße gedeckt sein könnte.