Pharmakotherapeutische Übersicht zu den Arzneimitteln bei Multipler Sklerose

Veröffentlicht am: 11.09.17

Arzneimittel zur Behandlung der Multiplen Sklerose

Verlaufsform Indikationsgruppe Therapieansatz Wirkstoff (Einführung)
Mild/moderat Immunstimulanzien (L03) Beta-Interferone wirken immunmodulatorisch Interferon beta-1a (1997)
Interferon beta-1b (1996)
Peginterferon beta-1a (2014)
Auch Glatirameracetat hat eine immunmodulatorische Wirkung Glatirameracetat (2001)
Immunsuppressiva (L04) Pyrimidinsynthesehemmer hemmen die Proliferation bestimmter Immunzellen Teriflunomid (2013)
Andere Mittel für das Nervensystem (N07) Fumarsäureester hemmen die Ausdifferenzierung bestimmter Immunzellen Dimethylfumarat (2014)
(Hoch-)aktiv Immunsuppressiva (L04) Alpha-Integrin-Hemmer verhindern, dass Leukozyten die Blut-Hirn-Schranke überschreiten Natalizumab (2006)
  S1P-Rezeptor-Modulatoren verhindern den Übertritt bestimmter Immunzellen ins Blut Fingolimod (2011)
  Anti-CD52-Antikörper mindern die Zahl bestimmter Immunzellen im Blut Alemtuzumab (2013)

Quelle: IGES Institut

Die bei der MS eingesetzten Arzneimittel sind in der im Arzneimittel-Atlas verwendeten Klassifikation drei verschiedenen Indikationsgruppen zugeordnet: den Immunstimulanzien (L03), den Immunsuppressiva (L04) sowie den anderen Mitteln für das Nervensystem (N07). Alle Wirkstoffe werden bei der immunmodulatorischen Therapie der MS eingesetzt. Je nach Wirkmechanismus werden sie verschiedenen Therapieansätzen zugeordnet, die – abgesehen von den Beta-Interferonen – bislang jeweils nur einen Wirkstoff umfassen.

Die Wirkstoffe werden außerdem danach unterschieden, ob sie bei milden bis moderaten oder (hoch-)aktiven Verlaufsformen der MS eingesetzt werden (DGN 2014).

Wirkstoffe, die bei milden bis moderaten Verlaufsformen der MS eingesetzt werden

Die folgenden Wirkstoffe werden überwiegend bei der schubförmig remittierenden MS (RRMS) eingesetzt, einige auch bei der sekundär progredienten MS (SPMS) bzw. beim klinisch isolierten Syndrom (KIS).
Beta-Interferon wird natürlicherweise im Organismus produziert und wirkt antiviral und immunmodulatorisch. Es hemmt das Wachstum von Zellen und von Tumoren. Es wird angenommen, dass bei der MS zahlreiche immunregulatorische Prozesse verändert sind. Beta-Interferone greifen an vielen dieser Prozesse an und wirken so bei MS immunmodulatorisch. Offenbar ist kein einziger der bisher nachgewiesenen Effekte allein verantwortlich für die Wirksamkeit von Beta-Interferonen bei MS, sondern die Wirksamkeit beruht auf der Kombination der Effekte (Kasper und Reder 2014).
Bei Glatirameracetat handelt es sich um Gemisch von Poylpeptiden mit zufälliger Sequenz. Auch dieser Wirkstoff wirkt über zahlreiche Einzeleffekte immunmodulatorisch auf die pathophysiologischen Prozesse bei der MS.
Ein weiterer Therapieansatz sind die Pyrimidinsynthesehemmer, zu denen für die Anwendung bei MS nur das Teriflunomid gehört. Es ist der aktive Metabolit von Leflunomid, das bei der rheumatoiden Arthritis eingesetzt wird. Teriflunomid hemmt das Enzym Dihydroorotsäuredehydrogenase, ein Schlüsselenzym der Pyrimidinsynthese. Durch Unterdrückung der Pyrimidinsynthese kommt es zu einem zytostatischen Effekt auf bestimmte Immunzellen, die T-Zellen. Zusätzlich wird durch Teriflunomid die Funktion verschiedener Immunzellen beeinflusst(Di Nuzzo et al. 2014).
Einziger Vertreter der bei MS eingesetzten Fumarsäureester ist das Dimethylfumarat. Es erhöht die Aktivität von Nrf2, einem Transkriptionsfaktor, der die Expression einer Reihe von u.a. antioxidativen Enzymen steuert. Es ist allerdings unklar, ob sich aus dieser Wirkung ein neuroprotektiver Effekt für Dimethylfumarat ableiten lässt. Dimethylfumarat hemmt außerdem den NF-κB-Signalweg in bestimmten Immunzellen. Derzeit wird angenommen, dass Dimethylfumarat dadurch die Ausdifferenzierung von T-Zellen in die für die Pathophysiologie der MS relevante Richtung hemmt (Di Nuzzo et al. 2014). Fumarsäureester werden seit langem auch schon zur Therapie der Psoriasis eingesetzt.

Wirkstoffe, die bei (hoch-)aktiven Verlaufsformen der MS eingesetzt werden

Die folgenden Wirkstoffe werden nur bei der RRMS eingesetzt:
Einziger Vertreter der Alfa-Integrin-Hemmer ist bisher das Natalizumab, ein monoklonaler Antikörper, der sich gegen α4β1-Integrin richtet, das zu den Adhäsionsmolekülen gehört. Dieses Adhäsionsmolekül findet sich auf der Zelloberfläche von Leukozyten. Wenn sich Natalizumab an das Adhäsionsmolekül geheftet hat, sind die Leukozyten nicht mehr in der Lage, die Blut-Hirn-Schranke zu passieren, und können sich nicht mehr an entzündlichen Prozessen im ZNS beteiligen (Rommer et al. 2014). Dies hat den erwünschten Effekt, dass die bei MS ablaufenden Entzündungsprozesse unterdrückt werden. Von Nachteil ist, dass es in seltenen Fällen zu einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie (PML) kommen kann, einer Reinfektion mit dem JC-Virus. Die PML tritt nur bei Immunschwäche auf, die u.a. durch Immunsuppressiva hervorgerufen werden kann wie Natalizumab, aber auch andere bei MS oder anderen immunologischen Erkrankungen verwendete Immunsuppressiva.
Zu den bei MS zugelassenen S1P-Modulatoren gehört bisher nur Fingolimod. Es führt über einen etwas komplexeren Mechanismus zu einer Hemmung von S1P1-Rezeptoren. Der S1P1-Rezeptor reguliert die Wanderung von Immunzellen zwischen lymphatischen Organen (z.B. Lymphknoten) und Blut- und Lymphgefäßen. Letztlich hemmt Fingolimod den Übertritt ins Blut von bestimmten Immunzellen (Tn- und TCM-Zellen), die somit auch nicht ins Gehirn gelangen können. TCM-Zellen stellen den Großteil der Zellen, die bei MS zu dem zerstörerischen Entzündungs-geschehen beitragen (Di Nuzzo et al. 2014).
Das Alemtuzumab ist ein Anti-CD52-Antikörper, der schon vor vielen Jahren entwickelt wurde und zunächst für die Behandlung von B-Zell-Leukämien zugelassen wurde. Das CD52-Antigen findet sich auf der Zelloberfläche bestimmter Immunzellen, wie z.B. Lymphozyten und Monozyten. Die Bindung von Alemtuzumab führt zur Zytolyse, wodurch die Zahl der im Blut zirkulierenden Zellen nach Gabe von Alemtuzumab stark zurückgeht. Die verschiedenen Immunzelltypen erholen sich nach der Gabe von Alemtuzumab innerhalb von Monaten, jedoch unterschiedlich schnell. Es wird angenommen, dass die Wirkung bei der MS sowohl auf der Minderung von zirkulierenden Zellen des spezifischen Immunsystems beruht, als auch auf einer indirekten immunmodulierenden Wirkung, die sich bei der Erholung der Zellbestände zeigt (Freedman et al. 2013).