Bedeutung der Therapie für Patienten

Veröffentlicht am: 11.09.17

Etablierte Therapien

Zur immunmodulierenden Therapie stehen mit den Beta-Interferonen und Glatirameracetat etablierte Wirkstoffe mit gutem Nutzen-Risiko-Profil zur Behandlung der schubförmig verlaufenden MS (RRMS) sowie der MS im Anfangsstadium (KIS) zur Verfügung. Die Therapie mit Interferonen führt bei Patienten mit RRMS nachweislich zu einer moderaten Reduktion der jährlichen Schubrate und Krankheitsprogression in den ersten Jahren nach Therapie (Rice et al. 2009, Filippini et al. 2013). Langzeitstudien konnten die Sicherheit einer langfristigen Therapie belegen (Reder et al. 2010). Glatirameracetat hat ein ähnliches Wirksamkeits- und Sicherheitsprofil wie eine Interferon-Therapie (McGraw und Lublin 2013, La Mantia et al. 2014). In Studien zeigte der Wirkstoff eine signifikante Reduktion der Schubrate sowie eine Verbesserung diverser Magnetresonanztomographie (MRT)-Parameter bei Patienten mit RRMS (McGraw und Lublin 2013). Allerdings kann es bei den zu injizierenden Basistherapien zu Compliance-Problemen kommen: Bis zu einem Drittel der behandelten Patienten brechen die Interferon-Therapie innerhalb von fünf Jahren ab, 10–20 % bereits innerhalb der ersten sechs Monate. Die Gründe dafür sind zahlreich, liegen aber u. a. an den auftretenden Nebenwirkungen, Problemen bei der Verabreichung und der empfundenen Wirkungslosigkeit (DMSG 2004).

Für Patienten mit MS wird heute die Frühtherapie der MS empfohlen (DGN und KKNMS 2014). Dies gilt insbesondere dann, wenn das Risiko für den Übergang in eine schubförmig verlaufende MS besonders hoch ist, was dann angenommen wird, wenn die MRT Hinweise auf eine hohe entzündliche Aktivität im ZNS gibt. Grundlage für diese Empfehlung ist, dass inzwischen in mehreren Studien nachgewiesen wurde, dass durch den frühen Therapiebeginn die Konversion vom KIS in eine definitive MS verzögert werden kann. Die Behandlung mit Beta-Interferonen und Glatirameracetat hat sich zudem in den letzten 20 Jahren als sicher erwiesen (Lugaresi et al. 2013).

Weiterhin kontrovers ist, ob es durch die immunmodulatorische Therapie der MS zu einer Verzögerung der Behinderungsprogression kommt. Hier zeigen die Studienergebnisse (noch) keine eindeutigen Ergebnisse. Eine definitive Beurteilung hinsichtlich des Therapieeffekts auf die Behinderungsprogression ist vermutlich erst nach sehr vielen – nämlich 10 bis 20 – Jahren möglich.

In einer Langzeitnachbeobachtung über 16 Jahre an Patienten aus einer der ersten großen Beta-Interferon-Studien (IFNB Multiple Sclerosis Study Group 1993) konnte jedoch gezeigt werden, dass der frühere Therapiebeginn mit Beta-Interferon die Behinderungsprogression verzögert: Aus der ursprünglichen Placebo-Gruppe hatten 46 % einen EDSS-Score von 6 (Gehstrecke 100 Meter mit Unterstützung), in der Gruppe, die mit der heute üblichen Dosis von Beta-Interferon behandelt wurde, waren es nur 39 % (Ebers et al. 2010). Zu der genannten Studie liegt eine weitere Nachbeobachtung für den Zeitraum von 21 Jahren nach Beginn der ursprünglichen Studie vor. In dieser konnten über 98 % der ursprünglich randomisierten Patienten berücksichtigt werden. Die Studie zeigt, dass bei Patienten mit Beta-Interferon-Behandlung die Sterblichkeit im Vergleich zu Placebo deutlich vermindert war: In der ehemaligen Placebo-Gruppe waren knapp 31 % der Patienten verstorben, in der ehemaligen Beta-Interferon-Gruppe nur 18 % (Goodin et al. 2012). Zu beachten ist, dass die meisten Patienten aus der ursprünglichen Placebo-Gruppe nach Beendigung der Studie ebenfalls immunmodulatorisch behandelt wurden.

Der frühe Therapiebeginn vermindert die Sterblichkeit bei MS-Patienten

  Behandlung in IFNB MS Study*: 0,25 mg Beta-Interferon Behandlung in IFNB MS Study *: Placebo
Anzahl der ursprünglich randomisierten Patienten 124 123
Anzahl der nach 21 Jahren identifizierten Patienten 122 121
Anzahl der lebenden Patienten 100 84
Anzahl der verstorbenen Patienten 22 37
Anteil der verstorbenen Patienten (%) 18,03 30,58
Vergleich 0,25mg Beta-Interferon vs. Placebo (HR [95% KI]) 0,532 [0,314-0,915], p=0,0202
*Ergebnisse zur IFNB MS Study siehe The IFNB Multiple Sclerosis Study Group 1993. Die Behandlung im Rahmen der ursprünglichen Studie dauerte mindestens 2 Jahre (Ebers et al. 2010)

Quelle: IGES nach Angaben aus: Goodin DS et al. 2012

Für Glatirameracetat wurde ebenfalls eine Langzeitbeobachtung publiziert, die eine 15-jährige Nachbeobachtung umfasst. In dieser Studie wird nicht nach der durch die ursprüngliche Randomisierung zugewiesenen Behandlung unterschieden. Allen Patienten wurde nach Ende der Studie eine Behandlung mit Glatirameracetat angeboten. Die Langzeitstudie unterscheidet Patienten danach, ob sie in der Langzeitbehandlung ausschließlich mit Glatirameracetat behandelt wurden oder die Behandlung mit Glatirameracetat abbrachen. Wesentliches Ergebnis dieser Studie ist, dass unter 15-jähriger Therapie mit Glatirameracetat die jährliche Schubrate gering blieb. Etwa die Hälfte der Patienten hatte stabile oder verbesserte EDSS-Scores im Vergleich zum Ausgangswert. Dies betraf 100 der 231 insgesamt berücksichtigten Patienten. Insgesamt 131 Patienten hatten die Behandlung mit Glatirameracetat abgebrochen, teilweise auch deshalb, weil es zu einer Verschlechterung der Symptomatik gekommen war und ein Therapiewechsel angestrebt wurde (Ford et al. 2010). Die Studie zeigt, dass für einen Großteil der Patienten die immunmodulatorische Therapie über 15 Jahre zu einer Stabilisierung der Erkrankung geführt hatte.

Inzwischen wird davon ausgegangen, dass es für die Behandlung der MS ein „therapeutisches Fenster“ gibt, in dem der Therapiebeginn sich für die Patienten positiv auf die Entwicklung einer Behinderung auswirkt (Lugaresi et al. 2013). Daher ist die Frühtherapie der MS anzustreben.

Neuere Therapien

Die neu eingeführten Therapien erweitern die Behandlungsmöglichkeiten bei Versagen der Basistherapien und bei (hoch-)aktiven Phasen der RRMS.
Fingolimod wurde im Jahr 2011 als erstes oral zu verabreichendes Arzneimittel eingeführt. Fingolimod zeigt bei bestimmten Patienten mit hochaktiver oder rasch fortschreitender RRMS eine signifikante Reduktion der Krankheitsschübe im Vergleich zur Interferon-Therapie. Ein Unterschied in Hinblick auf die Behinderungsprogression war nicht nachweisbar. Ergebnisse zur Wirksamkeit von Fingolimod bei primär progressiver MS fielen negativ aus (DMSG 2014). In Bezug auf die Sicherheit erlebten Patienten unter Fingolimod weniger grippeähnliche Symptome als bei einer Interferon-Therapie. Allerdings kam es unter Fingolimod vereinzelt zu schweren Fällen eines hämophagozytischen Syndroms (HPS) und progressiver multifokaler Leukenzephalopathie (PML).

Mit Natalizumab wurde im Juni 2006 der erste monoklonale Antikörper zur krankheitsmodifizierenden Therapie bei hochaktiver RRMS zugelassen. Studien deuten darauf hin, dass Natalizumab im Vergleich zu Placebo und zur Interferon-Therapie sowohl die Schubrate, die Behinderungsprogression als auch die MRT-Parameter deutlich verbessert (Clar et al. 2008). Allerdings ist die Therapie mit einem erhöhten Risiko für eine tödliche Reinfektion mit dem JC-Virus verbunden, die sich als die bereits erwähnte PML manifestiert. Aufgrund des erhöhten Sicherheitsrisikos wird die Therapie mit Natalizumab daher erst nach einer nicht erfolgreichen Therapie mit den Basistherapien empfohlen und erfordert ein sehr engmaschiges Monitoring mit einer ausführlicher Dokumentation (DGN/KKNMS 2014). Die europäische Zulassungsbehörde EMA hat im Mai 2015 ein neues Verfahren zur Bewertung der Sicherheit von Natalizumab gestartet.

Im Jahr 2013 erhielt Alemtuzumab, ein weiterer monoklonaler Antikörper, die Zulassung zur Behandlung der RRMS in Europa. Auch Alemtuzumab weist eine höhere Wirksamkeit auf im Vergleich zur Interferon-Therapie und führt zu einer Verbesserung im Hinblick auf Schubrate, Progredienz und MRT-Parameter (Ruck et al. 2015). Jedoch kann es unter der Therapie zu schwerwiegenden Autoimmunstörungen kommen, die ein umfassendes Risikomanagement-Programm erfordern. Aufgrund seines spezifischen Wirk- und Sicherheitsprofils in den klinischen Studien wird Alemtuzumab zur Reduktion der Schübe im Rahmen der Eskalationstherapie bei Patienten mit RRMS eingesetzt, also nach Versagen der Basistherapie.

Ein weiteres, seit 2014 zugelassenes orales Therapeutikum zur Behandlung der RRMS ist Dimethylfumarat. Der Wirkstoff senkt im Vergleich zu Placebo die Schubrate und verhindert das Fortschreiten der Behinderungsprogression. Allerdings fehlen bislang Studiendaten, die einen Direktvergleich mit den Basistherapien erlauben. Auch bei Dimethylfumarat sind einzelne Fälle einer PML aufgetreten, weshalb ein engmaschiges Monitoring erforderlich ist. Das im Jahr 2014 eingeführte Teriflunomid ist in seiner Wirksamkeit sowie in seinem Schadenspotenzial vergleichbar mit Interferon beta-1a (Lugaresi et al. 2013).

Für die neuen und neueren Wirkstoffe liegen zwangsläufig noch keine Ergebnisse zur Langzeitanwendung vor. Das heißt, es kann aktuell weder beurteilt werden, ob sich langfristig die Behinderungsprogression verzögert, noch, ob die Mortalität positiv beeinflusst wird. Es stehen nun allerdings mit Natalizumab, Fingolimod und Alemtuzumab Alternativen für die Eskalationstherapie bei (hoch-)aktiven Verlaufsformen der RRMS zur Verfügung, und diese Wirkstoffe gelten aktuell als die Mittel der 1. Wahl, während das früher eingesetzte Mitoxantron nun ein Mittel der 2. Wahl ist.

Mit Dimethylfumarat und Teriflunomid stehen oral anwendbare Alternativen bei milden bis moderaten Verlaufsformen der RRMS zur Verfügung und ergänzen das Therapiespektrum.

Fazit

Für Patienten mit schubförmig remittierender MS steht somit eine Reihe von Arzneimitteln zur individuellen Therapie zur Verfügung. Die etablierte Basistherapie wurde inzwischen über mehr als 20 Jahre erprobt. Sie ist als sicher einzustufen, und die bisherigen Erfahrungen und Erkenntnisse haben dazu geführt, dass inzwischen eine Frühtherapie der MS bereits im Stadium des klinisch isolierten Syndroms angestrebt wird. Studienergebnisse deuten darauf hin, dass so die Sterblichkeit von Patienten mit MS vermindert und vermutlich auch die Behinderungsprogression verzögert werden kann.

Aufgrund ihres Wirksamkeits- und Sicherheitsprofils ist die Zulassung für einige neue Wirkstoffe auf den Einsatz bei Versagen der etablierten Basistherapien und (hoch-)aktiven Verläufen der RRMS beschränkt. Noch fehlen für die schweren und (hoch-)aktiven Verlaufsformen therapeutische Ansätze mit einer hohen Wirksamkeit und gleichzeitig gutem Sicherheitsprofil vor dem Hintergrund, dass wesentliche Aspekte der Pathogenese der MS bis heute unklar sind und daher noch deutlich gezieltere Therapien nicht entwickelt werden konnten. Für die primär progrediente MS gibt es bislang leider noch keine Therapieoption.